Heilpädagogische Grundlagen für die Arbeit im Martinshof

Heilpädagogische Arbeit ist grundsätzlich eine interdisziplinäre Aufgabe. Sie wird von Heilpädagogen, Sozialpädagogen und Erziehern, Therapeuten verschiedener Richtungen, Arzt und Hauswirtschaftskraft, Zivildienstleistenden und anderen feiwilligen Helfern getragen. Das bedeutet einerseits eine Differenzierung in verschiedene Aufgabenbereiche, andererseits aber auch das Bewusstsein für die gemeinsame Aufgabe und die Bereitschaft, das Tun des Anderen zu unterstützen und es mit zu tragen. Auf einer solchen Grundlage kann sich eine therapeutische Gemeinschaft entfalten und entwickeln.

Es ist die Aufgabe einer solchen therapeutischen Gemeinschaft, den dort lebenden Kindern und Jugendlichen einen schützenden und gleichzeitig entwicklungsanregenden Lebensraum zur Verfügung zu stellen.

Da viele Kinder nicht über eine grundlegende Sicherheit in Raum und Zeit verfügen, muss eine klare rhythmische Alltagsgestaltung hier Strukturhilfen und Orientierung geben.

Das heilpädagogisch-therapeutische Leben in der Gemeinschaft ist bestimmt durch die Aufgaben des Alltags, dessen Bewältigung viele Kinder vor sehr große Probleme stellt, zugleich aber auch durch die Möglichkeit der bewussten Gestaltung des Jahreslaufes und der christlichen Jahresfeste.

Entscheidend für die heilpädagogische Arbeit ist das Anliegen, jedes Kind unabhängig von der Ausprägung seiner Beeinträchtigung in seiner individuellen Entwicklung anzuregen, wobei offen bleiben muss, zu welchen Fähigkeiten und Fertigkeiten es einmal gelangen kann. Für das Kind ist die Tatsache, dass es sich in einer sozialen Gemeinschaft weiterentwickeln und nachreifen kann, eine bedeutsame Lebenserfahrung.

Die Gemeinschaft wird von einer an der anthroposophischen Medizin orientierten Ärztin betreut. Ihre Aufgaben sind neben der konstitutionellen Behandlung und der regelmäßigen Untersuchungen auch die Mitwirkungen bei Kinderbesprechungen und Therapieplanung. Für die akute medizinische Versorgung wird ein praktischer Arzt vor Ort konsultiert.

Zu den alltäglichen Aufgaben in der therapeutischen Gemeinschaft gehören sowohl die Gartenarbeit mit der Pflege der Blumen und Kräuter als auch die Fürsorge für die Tiere des Hauses.

Wichtiger Bestandteil der Arbeit auf dem Martinshof soll neben den sozialtherapeutischen Aspekten ein individuell auf das einzelne Kind abgestimmtes Therapieangebot sein.

Hierbei handelt es sich um verschiedene Körpertherapien und Massagen, künstlerische Therapien (Musik- und Maltherapie, Plastizieren), Wahrnehmung und Sinnnesschulung und therapeutisches Reiten.

Wenn möglich sollen diese einzel- und gruppentherapeutsichen Maßnahmen durch die Mitarbeiter der Gemeinschaft erfolgen, die die entsprechende Qualifikation und Erfahrung mitbringen. Darüber hinaus wird das Team ergänzt durch Fachkräfte von außerhalb, die bestimmte Förderbereiche übernehmen.

Organisation und Zusammenarbeit

Eine heilpädagogische Gemeinschaft beruht weitgehend auf der Initiativkraft jedes einzelnen und benötigt ihre eigene, auf die zu leistenden Aufgaben zugeschnittene Organisationsform. Die Eigeninitiative muss dabei im richtigen Verhältnis zu Verantwortung und gegenseitiger Verbindlichkeit stehen. Regelmäßige wöchentliche Teamgespräche sind daher unerlässlich. Die Leitung des Martinshofs nimmt die notwendigen Leitungsfunktionen wahr und vertritt die Einrichtung nach außen hin. Für die Erfüllung und Fortschreibung der Jugendhilfeplanung für jedes Kind gemäß den Anforderungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ist das Team in seiner Gesamtheit zuständig. Gleichzeitig wird für jedes einzelne Kind ein Bezugsbetreuer ausgewählt. Für eine Reihe von wirtschaftlichen, sozialen, heilpädagogischen und therapeutischen Fragen werden beratende Menschen herangezogen, ebenfalls für eine monatliche begleitende Supervision des gesamten Teams.

Da die Gemeinschaft sich an einer durch das anthroposophische Menschenbild Rudolf Steiners gestalteten Heilpädagogik orientiert (siehe Grundlagen), besuchen die Kinder des Martinshofs möglichst die Johannesschule in Bonn, eine freie Schule für Erziehungshilfe, deren Unterrichtsplanung und Gestaltung sich an der Waldorfpädagogik orientiert, jedoch eine speziell für das Seelenpflege bedürftige Kind entwickelte anthroposophische Heilpädagogik berücksichtigt. Eine enge Zusammenarbeit mit den Lehrern und Therapeuten dieser Schule ist im Interesse und zum Wohl der betreuten Kinder und Jugendlichen nötig. Dies ist allerdings nicht Voraussetzung für die Aufnahme eines Kindes. Auch der Besuch anderer Sonder- oder Regelschulen ist möglich. Die jüngeren Kinder besuchen einen entsprechenden heilpädagogischen Kindergarten. Für die Zeit nach der Schulentlassung wechseln die Jugendlichen in eine ihren Möglichkeiten entsprechende Einrichtung für junge Erwachsene (betreutes Wohnen, Wohnheime, Werkstätten etc.) oder sind in der Lage, ein eigenständiges Leben in eigener Verantwortung zu führen.

Elternarbeit

Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist abhängig von der Bereitschaft der Eltern selbst. Die Aufnahme in eine Heimeinrichtung ist meist nicht nur für die Kinder, sondern auch für deren Eltern ein bedeutsamer Lebenseinschnitt. Meist sind der Aufnahme hohe Konflikt- oder Stresssituationen vorausgegangen, die im Laufe der Zeit verarbeitet werden müssen. Die Mitarbeiter der Gemeinschaft sind bemüht, Eltern und Kindern einen Neuaufbau der Beziehung unter neuen Lebensbedingungen zu ermöglichen. Das bedeutet, intensive Elterngespräche zu führen, die auch biographische Aspekte beinhalten. Grundsätzlich ist es auch möglich, eine Wiedereingliederung des Kindes in die Familie vorzubereiten, wenn Eltern und Kinder die notwendige Hilfe angenommen und die nötigen Entwicklungsschritte vollzogen haben, die ein Zusammenleben wieder möglich machen.

Wenn möglich fahren die Kinder und Jugendlichen an zwei Wochenenden im Monat zu ihren Familien und sind auch einen Teil der Schulferien zu Hause. Sollte dies aus familiären Gründen nicht möglich sein, können die Kinder/Jugendlichen selbstverständlich in der Einrichtung bleiben und werden betreut.

Einen anderen Teil der Schulferien wird die gesamte Gruppe während einer gemeinsamen Ferienfahrt Erholung finden.

Menschenbild

Allgemeine Grundlage der Arbeit bildet eine besondere Richtung der Heilpädagogik, welche auf der geisteswissenschaftlichen Forschung Rudolf Steiners, der Anthroposophie, basiert. Die anthroposophische Heilpädagogik orientiert sich an den Grundlagen der Waldorfpädagogik, stellt aber aufgrund ihres spezifisch therapeutischen Charakters einen eigenständigen Ansatz dar. Es kommt zu einer Verflechtung von Medizin, Kunst und Pädagogik, eingebettet in das Alltagsgeschehen der sozialen Gruppe. Der menschliche Wesenskern, welcher bei jedem als unversehrt und intakt angesehen wird, offenbart sich im Seelenleben des Menschen. Körperlich und intellektuell kann der Mensch eingeschränkt und/oder in unterschiedlicher Weise entwicklungsgehemmt sein. Den Hindernissen, die einer gesunden Entfaltung der Lebenskräfte, der Sinne, der Motorik sowie der kognitiven und sozialen Fähigkeiten entgegenstehen, begegnet die Pflege des Seelischen.

Die „Seelenpflege“ wendet sich also an die Individualität im Menschen, um ihr zu helfen, Brücken über körperliche und geistige Barrieren zu bauen, kränkende Erlebnisse und Einseitigkeiten auszugleichen sowie die leiblichen Prozesse zu harmonisieren.

Die pädagogische Arbeit soll den ganzen Menschen mit seinen Verstandeskräften (Denken), seinen individuellen Empfindungen (Fühlen) und seinen Willensimpulsen (Wollen) ansprechen. Eine Schulung der Mitarbeiter in der anthroposophischen Menschenkunde ist notwendig, damit sich der Erziehende ein Erkenntnis- und Handlungsvermögen aneignet, um das Kind in seinem Wesen erreichen zu können. Aber auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und Erfahrungen aus anderen pädagogischen therapeutischen Richtungen werden integriert, wenn die ursprüngliche Zielsetzung dadurch nicht verändert wird.

Auf die Zusammenstellung der Kindergruppe für den Martinshof wird mit großer Sorgfalt geachtet. Neben der Berücksichtigung der Temperamente soll ein Zusammenwirken und Ergänzen der verschiedenen Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten ermöglicht werden.

Arbeitsweise

Der Schwerpunkt unserer pädagogischen Arbeit liegt in der Gestaltung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Gleichzeitig soll der einzelne in seinem Eigenwert erlebt, respektiert und angesprochen werden. Die Gemeinschaft bietet auf diese Weise einen schützenden Rahmen, innerhalb dessen neue Entwicklungsschritte möglich werden können. Die Entwicklung des menschlichen Kontaktes findet in allen Bereichen sowohl in der Freizeitgestaltung als auch in den häuslichen Aufgaben und Arbeiten statt. Die Umgebung, die Aufgabenstellung, die Handlungsabläufe und die benutzten Techniken sollten durchschaubar und innerlich wie äußerlich nachvollziehbar sein. Nach seinen individuellen Möglichkeiten soll der einzelne zum eigenen Wohlergehen und zum Wohl der Gemeinschaft beitragen und so zu einer größtmöglichen Selbständigkeit geführt werden. Begegnung steht im Mittelpunkt der Bemühungen.

Mit viel Geduld muss der zu betreuende Mensch an der jeweiligen Entwicklungsstufe seines Lebens „abgeholt“ werden. So müssen z.B. dem entwicklungsgestörten Kind durch ihm angemessene Spielangebote und gezielte Begleitung neue Entwicklungsräume eröffnet werden, damit eine Nachreifung stattfinden kann. In der Pubertät soll ein breites Weltinteresse geweckt und die Jugendlichen mit ihren Fragen zur Sexualität und Körperwahrnehmung ernst genommen werden. Sportliche und körperliche Betätigungen, Fahrten, Wanderungen, Exkursionen und eine bewusste Untersuchung der direkten Umgebung werden in dieser Zeit das Hauptgewicht in der Freizeitgestaltung haben. Künstlerische Aktivitäten, bildnerisches Gestalten, Tanz, Theater und Rollenspiel können helfen, Gefühle auszudrücken und zu harmonisieren. Jede rhythmische, aktive Betätigung sowie ruhige, klare Sinneseindrücke stärken die Willens- und Lebenskräfte, während die ausschließlich konsumierende Aufnahme technisch aufbereiteter Unterhaltung diese schwächt und lähmt. Der rhythmische Verlauf des Tages, die Ordnung bei den Mahlzeiten, die richtige Verteilung von geistiger Arbeit am Morgen und künstlerischer wie praktischer Betätigung am Nachmittag helfen dem Kind, seinen Organismus zu gestalten und eine Grundlage für spätere Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung im Erwachsenen Alter zu schaffen. Rhythmus und Gewohnheit dürfen dabei nicht mit Monotonie und Stereotypen verwechselt werden.

Obwohl die Gemeinschaft einen Schutzraum bieten will, darf sie nicht zur Insel werden.

Neben der Integration der Kindergruppe in das Umfeld der Gemeinde wird ein sozialer und kultureller Austausch gepflegt.

Die Gestaltung des gesamten Hauses nach ästhetischen Gesichtspunkten hat Auswirkungen auf das geistige, seelische und körperliche Wohlbefinden jedes Hausbewohners. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Wichtigkeit ökologisch einwandfreier und biologisch wertvoller Nahrung und Kleidung gerade für den beeinträchtigten Menschen und sein Wohlergehen erinnert.

Tages- und Wochenprofil im Zusammenhang mit dem Jahreslauf

Ein beispielhafter Tagesüberblick soll die allgemein geschilderten Ideen aufzeigen. Nach dem Aufstehen und der Körperhygiene werden beim gemeinsamen Frühstück die Besonderheit des Tages und allgemeine Dinge besprochen. Nach dem Frühstück bereiten sich die Kinder auf die Abfahrt zur Schule im Schülerspezialverkehr oder öffentlichen Verkehrsmitteln vor. Je nach Alter und Klassenstufe enden die Unterrichtszeiten unterschiedlich. Dadurch gibt es für die Jüngeren an einigen Tagen viel Raum mit den Mitarbeitern am Mittagstisch und bei den Hausaufgaben. Dabei wird auf den vergangenen Schultag geblickt und Wünsche und Anregungen für die noch verbleibende Freizeit geäußert. Einzelne Kinder werden in Fördermaßnahmen oder Einzeltherapien eingebunden. Nach dem Abendessen schließen sich Abräumarbeiten, die Versorgung der Tiere, pflegerische Maßnahmen, Bäder und Einreibungen an. Vor dem Zubettgehen genießen die Kinder eine besondere Einzelzuwendung des Betreuers mit intensiven Gesprächen. Mit einer Geschichte und einem Abendspruch werden die Kinder in den Schlaf geführt.

Als zentrale prägende Kraft unseres Kulturraumes werden die christlichen Inhalte durch die Jahresfeste vermittelt und gelebt. In vielen Lebensbereichen üben die Jahresfeste und ihre Vorbereitungszeiten sowie der Wandel der Jahreszeiten einen bestimmten Einfluss aus. Die wiederkehrenden Inhalte geben Sicherheit und Lebensorientierung und stärken die Seelenkräfte der Kinder.